Text

KioskShop berlin (KSb)

KioskShop berlin (KSb) von Semjon H. N. Semjon (2021)

Von Dezember 2000 bis zum Frühjahr 2010 hat der Berliner Künstler Semjon H. N. Semjon mit seinem auf Dauer angelegten Projekt »KioskShop berlin (KSb)« in Berlin-Mitte den Einzelhandel und die Kunstwelt auf einzigartige Weise miteinander verbunden.
Seit seiner Eröffnung im Oktober 2001 haben bis zum Frühjahr 2000 rund 7000 Besucher den »KioskShop« besucht.

Auf Umwegen über eine weitere komplexe Kunstinstallation –»Konstruktion der Moderne: Die Berliner Sammlung Dr. Carl Theodor Gottlob Grouwet (1919)«  wurde »KioskShop« im Jahr 2010 durch Wände, die den Salon der Sammlung darstellten, quasi eingehaust und zur Galerieeröffnung von Semjon Contemporary im September für zehn Jahre als Straßen-Salon der Galerie genutzt.

Kurzzeitige Wiederauferstehung?
Im Oktober 2021 wurden die Wände abgebaut, um »KioskShop« als Ganzes wieder in Erscheinung treten zu lassen. Die erfolgte Kündigung der Galerieräume nach 10 bzw. 21 Jahren durch die Berggruen Holdings, die zwischenzeitlich das Gebäude erworben hatte, veranlassten Semjon nach einem zehn Jahre währenden künstlerischen Sabbatical sein eigenes Werk hier in der Schröderstraße vermutlich ein letztes Mal zu zeigen. Die Zukunft dieser einmaligen Installation war völlig ungewiss. Mit dem Auszug der Galerie hätte der »KioskShop« zerschlagen und wohl zerstört werden müssen. Das Kunstwerk ist für eben diesen Ort geschaffen worden (in situ). U.a. wurden die Holzdielen gegen einen erschütterungsfreien Estrichboden ausgetauscht und der Terrazzoboden vom Künstler selbst gefertigt, sowie die selbstgebauten Ladenmöbel miteinander zu einem Ganzen verschraubt, verspachtelt und lackiert. Eine Treppenverlegung und der Einbau einer Heizung ohne die Beeinträchtigung der Ladenarchitektur gehörten ebenso dazu. Über zehn Jahre (eigentlich elf) hat das Kunstwerk als fester Bestandteil die Entwicklung der Schröderstraße mitgestaltet: Die Räume des »KioskShop« waren im November 2000 erst die dritte vermietete Ladeneinheit in dieser Straße. 2011 waren dann alle Läden in der kleinen und besonderen Schröderstraße mit Leben gefüllt. Zum Glück hatte sich der Kampf gegen die Kündigung gelohnt. Semjon hatte sich von der Holdings rausklagen lassen. Kurz vor dem Gerichtstermin kam es zum Glück zu einer Einigung mit der Nicolas Berggruen Holdings. Bis Ende Mai 2027 kann der KioskShop erst einmal bleiben.

Die auf Dauer angelegte Installation simuliert einerseits einen kleinen Kiezladen, andererseits spielt das Kunstwerk mit den Wahrnehmungen und löst Reflexionen über die Warenwelt und deren Vertrieb aus.

Im Mittelpunkt des begehbaren Kunstwerkes stehen unzählige »Product Sculptures«. Dies sind mit gebleichtem Bienenwachs überarbeitete Produktpackungen, zumeist samt Inhalt: Brandt Zwieback, Ariel-Waschmittel, Coca-Cola-Dosen, Zeitungen und Zeitschriften, Süßigkeiten, Zigaretten und vieles mehr. Wie in einem Geschäft sind sie seriell in dafür entworfenen und gebauten Ladenmöbeln aufgestellt. Die malerisch weißen und fremd wirkenden Produktskulpturen, das minimalistische Design der weißen Möbel und der hell erleuchtete Raum schaffen Distanz und transzendieren das wohlbekannte Ladenambiente in eine andere Wahrnehmungs- und Erkenntnisebene. »Wie vor einem Gemälde wird Abstand vom Betrachter gefordert und gleichzeitig Neugier geweckt« (Jan Maruhn in einem Text zum »KioskShop«, ca. 2001). Das Design sollte eine abstrahierende Wahrnehmungssynthese aus der Erinnerung vom längst vergessenen Kolonialwarenladen über den Nachkriegs-Tante-Emma-Laden und dem heutigen, vorwiegend von Migranten betriebenen Späti sein. Die Installation war als Work-in-progress angelegt worden. Wie ein wirklicher Laden kamen ständig neue ›Produkte‹ dazu, die auch zu erwerben waren. Dafür hatte Semjon ein Präsentationssystem entwickelt, das zum einen das empfindliche Kunstwerk physisch schützt und zugleich seinen Mehrwert durch den Schaukastencharakter optisch und metaphorisch erhöht.

Genese
Durch den New Yorker Studienaufenthalt von 1991 – 1994, gefördert vom Evangelischen Studienwerke Haus Villigst e.V., entdeckte Semjon das gebleichte Bienenwachs als Arbeitsmaterial. Ursprünglich wollte Semjon sich um eine Assistenz bei dem von ihm sehr geschätzten amerikanischen Maler Jasper Johns bewerben, doch es kam alles anders. Bei Pearl Paint, dem großen mehrstöckigen Geschäft für Künstlerbedarf in der Canal Street, entdeckte Semjon das in Barren gegossene gebleichte Bienenwachs und kaufte gleiche einige davon. Gleichzeitig hatte er die ersten geleerten Half-Gallon-Milch-Container mit dem Giebel nicht weggeworfen, weil die ihm aus Berlin vertraute Form plötzlich ein ganz anderes, viel grafischeres Design aufwies. (Nur in Berlin gab es die 2l-Milch-Verpackung. Diese wurde durch die Anwesenheit der Amerikaner als ‚Besatzungsmacht eingeführt. Heute gibt es sie nicht mehr.)

Die Semjon so beeindruckende Enkaustikmalerei, die er bei Jasper Johns und auch bei seinem ersten Lehrer Martin Assig schätzte, aber schon durch sein Studium der klassischen Archäologie von den Mumienporträts aus Ägypten in römischer Zeit her kannte, inspirierte ihn zum Experiment.Medardo Rosso, der erst in den letzten Jahrzehnten als gleichrangig zu Auguste Rodin gesehen wird (nach Semjons Meinung aber noch interessanter und innovativer ist) lernte er bereits an seinem ersten Tag im Institut für Kunstwissenschaft der TU in Berlin im April 1984 kennen. In der Institutsbibliothek lag auf dem großen mit Linoleum gefassten Tisch eine Katalogbroschüre aus den 20er Jahren des 20. Jahrhundert zu Medardo Rosso. Es war Semjons Initiation für sein noch zu entdeckendes künstlerisches Hauptmaterial.

Die erste »Product Sculpture« entstand noch am Nachmittag nach dem Kauf der Wachsbarren und am darauffolgenden Tag, und hat seitdem eine Fülle an weiteren Werkgruppen, die das Wachs – zumeist als Hauptmaterial nutzt – generiert. Das künstlerische Prinzip der »Unity in Difference« wurde geboren.Die verschiedenen Aggregatzustände und ihre daraus ableitenden technischen Verarbeitungsmöglichkeiten (flüssig mit dem Pinsel, weich mit dem Spachtel und hart mit dem Schnitzmesser) ergeben einen Kosmos an formalen, aber auch inhaltlichen Werkgruppen.

Aus der ersten »Product Sculpture« wurde in kürzester Zeit das »DeliGrocery Project« geboren, dessen Realisierung Semjon in mehreren Anläufen, zuletzt von 1999-2000 vor Ort anging. Die »Combination Sculptures« »Grocery«, sowie »Countertop Coca Cola« sowie weitere Werke sind resultierende Werke aus dieser Zeit.1996 konnte Semjon in Berlin-Zehlendorf seine erste Installationsskulptur »Kiosk» realisieren. Der freistehende Kioskpavillon aus den 1950er Jahren mit seinen von Semjon aufgestellten Chrom-Glas-Regalsystem und darin inszenierten Ensemble von »Product Sculptures« erfreute und irritierte die Berliner für drei Monate und war ein dankbares Kunstwerk für die Kunstkritik.

 

 

Unity in Difference | Einheit in der Differenz

Das strukturalistische Prinzip der »Unity in Difference« (1999)

Alle Seitenverweise beziehen sich auf den 1999 im Vice Versa Verlag, Berlin, erschienenen Katalog, der hier auch als PDF-Datei erhältlich ist.

Zu Beginn der 90er Jahre hat sich durch meinen Aufenthalt in New York von November 1991 bis April 1994 meine künstlerische Haltung des parallelen Arbeitens entwickelt. Der konzeptuelle Überbau der »Unity in difference/Einheit in der Differenz« ermöglicht mir, verschiedene Interessen und Talente zum Ausdruck zu bringen. Neben den klassischen Feldern, in denen ich arbeite, wie Zeichnung, Malerei, Skulptur, Objekt, Installation und Fotografie, gibt es die Einteilung in Gruppen, die sich in der künstlerischen Herangehensweise unterscheiden (siehe Schema).

Den alten Kampf zwischen der Ratio und der Emotio, zwischen Spontaneität und planender Kontinuität habe ich für mich im parallelen Arbeiten durch die Systematisierung in verschiedenen Werkgruppen gelöst. Es ist der Versuch, das Chaos zu verhindern, das zweifelsohne einbrechen würde.

Mein seit Jahren bevorzugtes Arbeitsmaterial, das Bienenwachs, bietet die verschiedensten Bearbeitungsmöglichkeiten, da es durch seine drei sehr nahe beieinander liegenden Aggregatzustände vielfältig verwendbar ist. Das gebleichte Bienenwachs ist sehr staubempfindlich. Es bedarf eines Schutzsystems, das mir gleichzeitig die Möglichkeit gibt, die verschiedenen Werkgruppen farblich zu markieren. Es entsteht somit ein Gefüge aus innen und außen, durch die Farben Rot, Blau und Schwarz (und andere) voneinander unterschieden. Die farblichen Schutz- und Ordnungskörper verschmelzen mit dem eigentlichen Werk zu einem Ganzen.

Die »Blaue Gruppe« stellt den rein konzeptuellen, minimalen und abstrakten Charakter meiner Arbeiten dar. Das Konzept des Beruhigens, des Verweigerns, Schützen und Konservierens ist als eine Hinterfragung der lauten und aggressiven Konsum-, Werbe- und Kommunikationswelt zu verstehen. Durch das individuelle Bearbeiten ihrer Produkte mit gebleichtem Bienenwachs, das Erarbeiten einer semitransparenten, malerischen Trennschicht wird das ‚laute‘ Objekt beruhigt, der Alltäglichkeit entrückt und verklärt in eine neue Wirklichkeit versetzt, die Individualität und Kontemplation meint und aus dem alltäglichem Ding eine Skulptur oder eine Malerei werden läßt. Zu dieser Arbeitsgruppe gehören die »Product Sculptures« (Seite 19-22), die »Product Paintings«, die »Ad Paintings« sowie Installationen wie »Kiosk« (Seite 26-28) und »Deli/Grocery« (Seite 61).

Die »Rote Gruppe« ist der Versuch, den eher emotionalen Bereich unseres Lebens anzugehen: Liebe, Sexualität, Gewalt, Prägung (Erziehung, Kindheit) und Geschichte sind die Leitthemen. Die Methodik räumt dem ‚Aus-dem-Bauch-heraus-Arbeiten‘ einen größeren Stellenwert ein. Sie ist unvermittelter, weil direkter. Hierzu gehören die »Frame Paintings« (Seite 40), die »Shield Paintings«, die »Icon Paintings«, die »Erotic Paintings« und die »Album Paintings« (Seite 41-43). Sowohl Skulpturen als auch Objekte sind in den Werkgruppen der »Animals in Torso« (Seite 45), der »Myth Figures«, der »Metamorphosis Figures« (Seite 44) und der »Private Souvenirs« vertreten. Die »Army of Clones«, »Bloody Babies« (Seite 47) und »Flying Babies« sind dieser Gruppe zugehörige Installationen.

Die »Schwarze Gruppe« bietet die Möglichkeit, von der Körperlichkeit des Materials, dessen Assoziationskraft auszugehen. Hier kann ich experimentell mit dem Arbeitsmaterial umgehen und spielerisch komponieren. Auch von mir gefertigte Zeichnungen, Collagen und Fotografien werden weiterer Überarbeitungsschritte unterzogen. Als Beispiele können hierfür die »Eclectic Figures« als Objekte, die »Mixed-Media-Series«-Arbeiten, die »Structural Paintings«, die »Berlin Paintings« (Seite 34-38) und die »Portrait Paintings« (Seite 30-33) angeführt werden.

Mein zeichnerisches Arbeiten ist ebenfalls in Gruppen bzw. Serien unterteilt: Die »Triplets« (Seite 48), die »Tableaus« und die »Structural Combinations« (Seite 49-50), die »Structural Constitutions« (Zeichnung und Fotografie) und die »Structural Drawings« (Seite 51-54) sowie die »Baustellen Drawings« (Seite 39). Mich interessiert, die Möglichkeiten der Zeichnung herauszuarbeiten und die daraus resultierenden Ergebnisse durch Gegenüberstellung in Widerstreit treten zu lassen.

Die Fotografie ist auch in meinem Werkkomplex vertreten. Hierbei ist vor allem die Gruppe der selbstreferentiellen Arbeiten zu nennen, die als Ausgangspunkt von mir bereits realisierte Kunstwerke haben. So dienen einzelne Kunstwerke wie z.B. die »Product Sculptures«, verschiedene »Wax Paintings« und die Installationen als Grundlage zur künstlerischen Fotografie (Seite 25-28, 32, 38).

Auch wenn ich mit unterschiedlichen Arbeitskonzepten ein Werk beginne, sind in dem Ergebnis doch immer alle drei menschlichen Wesenheiten zu finden: der Geist, der Körper sowie die Emotio.
Die systematische Einteilung in Werkgruppen ist ein Resultat des Handicaps, mich nicht nur auf eine Werkgruppe konzentrieren zu können und zu wollen. Ich brauche die Vielfalt, denn sie entspricht meiner Natur. Das entwickelte strukturalistische Prinzip der »Unity in difference/Einheit in der Differenz« hilft mir, meine verschiedenen Talente zu fördern, mein Arbeiten nach vorne zu treiben und nicht im Chaos zu versinken.

Meine Zeichnungsplastik »Black Box« (Seite 57) von 1990/91 hat somit bereits vorweggenommen, was sich erst später herauszuschälen begann: das parallele Arbeiten. Diese Arbeit ist ein wichtiges Gelenkstück zwischen meinem früheren Suchen und dem heutigen Finden.

Die »Weiße Gruppe« (seit 1991) und die »Goldene Gruppe« (seit 1996) sind hier nicht aufgeführt.